Presseaussendung "Welches Zeugnis hat sich die Bildungspolitik verdient?"

Kurz vor Schulschluss haben sich WissenschafterInnen der Universitäten Innsbruck, Linz und Wien zusammengetan, um eine kurze Zwischenbilanz über die Probleme des Bildungswesens und die Herausforderungen an die Bildungspolitik zu ziehen.

Im Bildungswesen sind einige kleine längerfristige Verbesserungen festzustellen, die großen Probleme blieben aber ungelöst. Besonderer Handlungsbedarf besteht bei den Mitteln für Integration, bei der Schulfinanzierung zum Ausgleich sozialer Benachteiligung und bei der frühen Trennung mit 10 Jahren.

Die gute Nachricht zuerst: In einigen Bereichen, etwa der Bildungsarmut, gab es in den letzten fünf bis acht Jahren leichte Verbesserungen. So ging der Anteil der frühen BildungsabgängerInnen unter den 18- bis 24-Jährigen, also jener Jugendlichen, die ohne oder nur mit einem Pflichtschulabschluss die Schule verlassen, zwischen 2010 und 2018 von 8,3% auf 7,3% zurück. Auch der Anteil der SchülerInnen, die am Ende der Volksschule die Mathematikstandards nicht erreichten, ist zurückgegangen. „Es sind zwar immer noch viele, aber es kam zu keiner Verschlechterung, eher beispielsweise zu leichten Verbesserungen in den Mathematikleistungen“, betont Johann Bacher, Professor an der Johannes Kepler Universität Linz. Auch weist er darauf hin, dass die Chance auf einen Hochschulzugang für junge Menschen aus „bildungsfernen“ Elternhäusern eher gleichgeblieben ist bzw. sich leicht verbessert habe. Aber dennoch besteht hinsichtlich Chancengerechtigkeit und der Vermeidung von Bildungsarmut Handlungsbedarf. Die genannten Entwicklungen wurden nicht von der Politik der Regierung Kurz-Strache, sondern von den früheren Regierungen angestoßen; BM Faßmann habe entsprechende Reformen aber fortgeführt.

Zu bedauern sei demgegenüber, so Johann Bacher, dass der „Integrationstopf“ abgeschafft wurde, obwohl Bedarf an zusätzlichen LehrerInnen-Stellen und Stellen für SchulsozialarbeiterInnen besteht. Die Mittel waren nach dem Chancenindex vergeben worden, was sich bewährt habe, wie eine Evaluierung nachgewiesen hat. Wichtige Projekte z.B. zur Verbindung von Schule und Sozialarbeit sind durch die Abschaffung ausgelaufen, das gewonnene Erfahrungswissen geht nun verloren. Die Hälfte der Mittel aus dem „Integrationstopf“ wurde für die neu eingeführten Deutschförderklassen verwendet. Über deren Wirkung liegen bisher zu wenige Befunde für ein abschließendes Urteil vor, so Bacher. Wichtig sei nach wie vor eine sozialindizierte Mittelvergabe an Schulen zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen.

Barbara Herzog-Punzenberger, Professorin an der Universität Innsbruck, hält die Deutschförderklassen lediglich für Symbolpolitik. Die Verbesserung zum vorhergehenden Modell konnte bislang nicht gezeigt werden. Ebenso bleibt der Mangel an geeignet qualifizierten Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache bestehen. Auch habe sich die Regierung Kurz-Strache laut Herzog-Punzenberger nicht dafür eingesetzt, „dass jede Lehrkraft in der Grundausbildung und in der Weiterbildung das Rüstzeug für Unterricht in sozial, sprachlich, kulturell und religiös vielfältigen Klassen bekommt“.

Die für Österreich erhobenen Bildungsstandarddaten zeigen deutlich, dass eine gemischte Zusammensetzung der Klassen aus sozial benachteiligten und schulisch leistungsschwachen SchülerInnen einerseits und sozial begünstigten und leistungsstarken SchülerInnen andererseits den Benachteiligten hilft, ohne den Begünstigten zu schaden. Aufgrund dieser Befunde plädiert Herzog-Punzenberger für eine stärkere Durchmischung. Zugleich sollte die Verteilung der Ressourcen für die Schulen auf die soziale Zusammensetzung abgestimmt sein. Einmal mehr wies Herzog-Punzenberger auf das Problem der frühen Aufteilung der Kinder schon mit 10 Jahren auf Gymnasium und Mittelschule hin. Nach OECD-Untersuchungen führt diese frühe Trennung zu einer eingeschränkten Entwicklung der Kinder und zu volkswirtschaftlichen Nachteilen. In vielen OECD-Ländern erfolgt die Aufteilung auf verschiedene Bildungswege erst mit 16 Jahren. „Entgegen unbewiesenen Gerüchten ist dort der Anteil der Privatschulen nicht höher als in Österreich“, so Herzog-Punzenberger.

Mariella Knapp und Corinna Geppert vom Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien halten die Orientierung an Testleistungen für ein gravierendes Problem des Bildungswesens. Bildungsstandards und Leistungsbeurteilung durch Noten in der Volksschule spiegeln Objektivität vor, führen aber nicht zu einer Verbesserung der Schulleistungen. „Damit verschleiern sie, dass die Leistungen von sozialen Rahmenbedingungen und den Ressourcen der Familie wie der Schule abhängig sind“, so Knapp und Geppert. Standardisierte Tests „erzeugen nur Druck, helfen aber nicht, die Rahmenbedingungen innerhalb der Schulen zu verbessern“. Die Bildungsforscherinnen plädieren dafür, dass die Schule nicht nur als Ort des Unterrichts und des Lernens, sondern auch des Miteinander-Lebens, des sozialen Zusammenhalts und der Bildung von Gemeinschaft verstanden werden wird.

Veronika Wöhrer vom Institut für Soziologie der Universität Wien betont die Bedeutung des Miteinander am Beispiel des Deutschlernens von SchülerInnen mit einer anderen Erstsprache. Über 90% der Jugendlichen in den Neuen Mittelschulen in Wien sprechen miteinander Deutsch, obwohl fast die Hälfte mit ihren Eltern meistens eine andere Sprache spricht. Sie zitiert die Aussage einer Schülerin, die in der Studie „Wege in die Zukunft“ befragt wurde: „Dann bin ich nach Österreich gekommen als ich neun war. Dann bin ich gleich in die Volksschule gegangen, gleich ab September, dritte Klasse Volksschule und dort gab‘s einen Jungen, der russisch gesprochen hat und mir immer alles übersetzt hat, deshalb hab‘ ich dann die Sprache auch so schnell hingekriegt und gut gelernt.“ Diese Schülerin geht inzwischen auf ein Gymnasium, hat dort gute Noten und verfolgt ihren Wunsch Ärztin zu werden. Sie ist kein Einzelfall. Erzählungen über SchulkollegInnen, die mit besseren Deutschkenntnissen übersetzten und halfen, hören wir in den Interviews öfter, so Wöhrer. Vor diesem Hintergrund argumentiert sie für eine Durchmischung in den Schulen und gegen getrennte Deutschförderklassen. Angesichts der hohen Bildungsziele und der verbreitet positiven Einstellung der Schule gegenüber, die in der Studie bei den Jugendlichen aus Neuen Mittelschulen in Wien festgestellt werden konnte, plädiert auch Wöhrer für eine Mittelzuteilung für Schulen nach dem Chancenindex, also nach der sozialen Zusammensetzung. Dadurch können die Chancen erhöht werden, dass auch benachteiligte Jugendliche ihre Bildungsziele erreichen.

Als dringendste Maßnahmen fordern die WissenschafterInnen von der gegenwärtigen und der nächsten Regierung:

  • die Wiedereinführung der unter der Regierung Kurz-Strache abgeschafften Integrationsmittel
  • die Zuteilung von Ressourcen an die Schulen nach einem Sozial- und Chancenindex
  • Spielräume für die Schulen, um ihre jeweiligen besonderen Rahmenbedingungen zu bewältigen
  • Die mit 10 Jahren im internationalen Vergleich sehr frühe Trennung der SchülerInnen sollte einer längeren gemeinsamen Schule Platz machen.

Rückfragen:
Univ.-Prof. Dr. Jörg Flecker, Institut für Soziologie, joerg.flecker@univie.ac.at

Stellungnahmen:

Univ.-Prof. Dr. Johann Bacher, Johannes Kepler Universität Linz
Univ.-Prof.in Dr.in Barbara Herzog-Punzenberger, Universität Innsbruck
Mag. Mariella Knapp & Dr. Corinna Geppert, Universität Wien
Dr. Veronika Wöhrer, Universität Wien

Pressespiegel:

"Forscher stellen Bildungspolitik kritisches Zeugnis aus"
APA Science (26.06.2019)

"Schlechtes Zeugnis für Bildungspolitik"
Science ORF (26.06.2019)

"Schlechtes Zeugnis für Bildungspolitik"
ORF Mittagsjournal (26.06.2019)

Stapel Zeitungen, © iStock.com/almir1968