In Memoriam Jürgen M. Pelikan (21.1.1940 – 11.2.2023)

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Das Institut trauert um Jürgen Pelikan. Er ist am vergangenen Wochenende im 84. Lebensjahr im Kreis seiner Familie verstorben. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie, insbesondere seiner Frau und Kollegin, Universitätsprofessorin Marina Fischer-Kowalski, und seiner Tochter Johanna. Noch bis wenige Tage vor seinem Ableben arbeitete er intensiv an einem großen internationalen WHO Projekt zur Gesundheitskompetenz und dessen Publikation. 

Als Institutsvorstand (1985-1991 und 1995-2004) prägte er unser Institut über viele Jahre sowohl zukunftsstrategisch als auch personalpolitisch und war maßgeblich an der Zusammenlegung der beiden Soziologieinstitute (2000-2002) beteiligt, die dank seiner unermüdlichen Bemühungen am Rooseveltplatz räumlich umgesetzt werden konnte. In seiner Funktion als Studienprogrammleiter und als Vorsitzender der Studienkommission gestaltete er mehrfach die Diskussionen für ein zeitgemäßes Curriculum der Soziologie. 

Trotz all seiner intensiven und erfolgreichen internationalen Forschungs- und Managementaktivitäten war ihm die Ausbildung der Studierenden am Institut für Soziologie immer ein zentrales Anliegen, und in diesem Sinne lehrte er auch nach seinem offiziellen Übertritt in den Ruhestand bis 2019 als Gastprofessor und Privatdozent am Institut. Er betreute und begleitete eine Vielzahl von Abschlussarbeiten und Habilitationen. 

Schon während seines Studiums zeigte sich sein breites Interesse an gesellschaftlichen und kulturellen Themen, sowie seine internationale Orientierung: So studierte Jürgen Pelikan an der Freien Universität Berlin, an der London School of Economics and Political Science, der Universität Hamburg, der Universität Wien und am Institut für Höhere Studien in Wien Soziologie, Psychologie, Philosophie und Kunstgeschichte. Er promovierte 1970 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien und ging im Anschluss als Postdoctoral Fellow der Ford-Foundation an die Columbia University in New York, wo er u.a. in Austausch mit Paul Lazarsfeld war.

Im Jahr 1972 übernahm er nach seiner Rückkehr nach Wien die Leitung der Abteilung für Soziologie des Instituts für Höhere Studien in Wien (IHS). Am IHS baute er auch, gestützt auf ein großes Projekt zur Situation des Pflegeberufs, und mittels aktiver Einladungspolitik von internationalen Gastprofessor*innen den Forschungsbereich Medizinsoziologie auf. Nach seinem Ausscheiden aus dem IHS gelang es ihm, diese Forschungsspezialisierung in der Ludwig Boltzmann-Gesellschaft zu verankern und schließlich 1980 zusammen mit dem renommierten Sozialpsychiater  Hans Strotzka das Ludwig Boltzmann Institut für Medizinsoziologie zu gründen, welches er zu einem national und international anerkannten Forschungsinstitut ausbaute (später erweitert um die Thematik „Gesundheitssoziologie“ und kurz LBIMGS bekannt). 

Ende der 1970er Jahre leistete Jürgen Pelikan durch eine zusammen mit Rudolf Forster durchgeführte Untersuchung der Patientenversorgung und des Personalhandeln am Psychiatrischen Krankenhauses in Wien (vulgo „Steinhof“) einen wesentlichen Beitrag zur Psychiatriereform in Wien. 1978 gelang ihm mit dem Vorschlag, den Rechtsschutz und die Rechtsfürsorge für psychisch kranke und behinderte Menschen professionell und auf Vereinsbasis zu institutionalisieren („Vereinssachwalterschaft“) einer seiner nachhaltigsten Erfolge der Anwendung von soziologischer Expertise. Dem aus diesem Vorschlag und einem wissenschaftlich begleiteten Modellversuch hervorgegangenen Verein „Vertretungsnetz“, der heute zu einer international beachteten Einrichtung des Rechtsschutzes für Menschen mit psychischen oder intellektuellen Beeinträchtigungen geworden ist, war er bis zuletzt als Beiratsvorsitzender verbunden. 

1981 habilitierte sich Jürgen Pelikan im Fach Soziologie an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und wechselte im selben Jahr an die Verwaltungsakademie des Bundes in Wien, wo er für die Konzeption und Umsetzung der Führungskräfteausbildung verantwortlich war

1985 wurde er zum Universitätsprofessor am Institut für Soziologie an der Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ernannt. Gemeinsam mit Rudolf Forster baute er am Institut die Forschungsspezialisierung „Medizin- und Gesundheitssoziologie“ auf und ermöglichte durch die enge Vernetzung mit dem LBIMGS vielen Studierenden eine forschungspraktische Ausbildung. Theoretisch war es vor allem die Systemtheorie, die seine wissenschaftliche Haltung prägte und deren Weiterentwicklung und praktische Anwendung er intensiv in der Organisationssoziologie betrieb.

Ab ca. 1988 wandte sich Jürgen Pelikan mit einem neuen Forschungsteam am LBIMGS und in Kooperation mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Thematik der Gesundheitsförderung im Krankenhaus zu und führte erfolgreich das weltweit erste Modellprojekt zum „Gesundheitsfördernden Krankenhaus“ an der Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien (heute „Klinik Landstraße) durch. 1992 wurde er Direktor des WHO-Kooperationszentrums für Gesundheitsförderung im Krankenhaus und Gesundheitswesen, das bis heute in Wien (mittlerweile an der „Gesundheit Österreich GmbH“) verankert ist. Damit in Zusammenhang war er führend an der Gründung des „Internationale Netzwerks Gesundheitsfördernder Krankenhäuser“ beteiligt, das jährlich Konferenzen in aller Welt abhält, die von Wien aus organisiert werden. Vom Konzept des Gesundheitsfördernden Krankenhauses ausgehend leistete er schließlich wichtige Beiträge zu einem systemtheoretisch orientierten organisationalen Settingansatz in der Gesundheitsförderung. Auf diesen Arbeiten aufbauend wurde schließlich das LBIMGS 2008 in das Ludwig Boltzmann Institut für Gesundheitsförderungsforschung (LBIHPR) übergeführt, in dem er auch die Arbeiten zur Gesundheitsförderung im Krankenhaus als eigene Programmlinie weiterführte. Das LBIHPR bildete bis 2015 eine ganze Generation von Nachwuchsforscher*innen im Bereich der Gesundheitsförderungsforschung aus. Jürgen Pelikan führte diese Arbeiten ab 2016 im Rahmen der Gesundheit Österreich GmbH u.a. als Direktor des WHO-Kooperationszentrums und Scientific Chair der Konferenzen des Internationalen Netzwerkes Gesundheitsfördernder Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen bis zuletzt weiter.

1999/2000 war er wissenschaftlicher Leiter des Universitätslehrganges Organisationsentwicklung im Bildungsbereich am Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Universitäten Innsbruck, Klagenfurt und Wien. Von 1996 bis 2004 trug er – zusammen mit seinem Stellvertreter Rudolf Forster – als Leiter von Universitätslehrgängen zur Ausbildung von Pflegelehrer*innen und von Pflegemanager*innen an der Universität Wien wesentlich zur Akademisierung und Professionalisierung des Pflegeberufs in Österreich bei. 

Er forcierte allgemein die Interventions- und Evaluationsforschung im Bereich des Gesundheitswesens. Seine Forschungsprojekte waren eng verknüpft mit Consultingaktivitäten im politischen System aber auch im Gesundheitssystem. Einer seiner erfolgreich umgesetzten praxisorientierten Vorschläge war die Einrichtung des niedrigschwelligen Gesundheitsinformations- und Beratungsdienstes 1450. 

Jürgen Pelikan war in zahlreichen nationalen und internationalen Vereinigungen wie der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, der Österreichischen Gesellschaft für Public Health, der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der International Sociological Association, sowie in Fachmedien wie Health Promotion International und Oxford University Press in unterschiedlichen Funktionen tätig. Beispielhaft sei auch seine Ernennung zum Adjunct Professor am Centre for Environment and Public Health an der Griffith University in Brisbane, Australien im Jahr 2007 genannt.

Seine zahlreichen Veröffentlichungen zeigen, dass seine Forschungen nicht nur von praktischer Relevanz sind, sondern im Wissenschaftssystem ihren Niederschlag finden und vielfältige Anregungen für Anschlussforschung bieten.

Zu seinem letzten großen Projekt wurde schließlich die Entwicklung des Konzepts und insbesondere auch der Messung von Gesundheitskompetenz („Health Literacy“), dessen empirische Umsetzung er im Rahmen der „Gesundheit Österreich GmbH“ vorantrieb, und bei dem er weltweit zu einem der führenden Forscher gehörte, u.a. in der Rolle als Scientific Chair des WHO Action Network on Measuring Population and Organisational Health Literacy. 

Als Anerkennung für seine herausragenden wissenschaftlichen Leistungen in der Gesundheitsforschung und vor allem auch für deren erfolgreiche praktische Umsetzung zur Förderung der Öffentlichen Gesundheit und des damit verbundenen Beitrags zur Gesundheit der in Österreich lebenden Menschen wurde Jürgen Pelikan 2017 vom Bundespräsidenten, vertreten durch die damalige Bundesministerin für Gesundheit und Frauen, Dr.in Pamela Rendi-Wagner, mit dem Großen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet.

Neben seinen vielseitigen wissenschaftlichen Aktivitäten, die stets durch seine meisterhafte Reflexionskompetenz geprägt waren, absolvierte Jürgen Pelikan eine psychoanalytische Lehranalyse, war affiliiertes Mitglied der Wiener psychoanalytischen Vereinigung und Lehrtrainer in der Österreichischen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung. Als Gruppendynamiktrainer leitete er jahrelang zahlreiche Trainingsgruppen am Gottlieb Duttweiler Institut/Zürich, am Hernstein International Management Institut/ Wien und an der Universität Wien.

Die österreichische Soziologie und die nationale und internationale Gesundheitsforschung verlieren einen immer wachen und kritischen Denker, einen großen und angesehenen Forscher, einen den Menschen zugewandten Wissenschaftler.

Von Kolleg*innen aus der Gesundheitsforschung und der Soziologie und in Abstimmung mit Marina Fischer-Kowalski wird für Herbst 2023 eine Veranstaltung zur Würdigung von Jürgen Pelikans Beiträgen in Forschung, Lehre und gesellschaftlicher Praxisanwendung vorbereitet.

 

Wir verabschieden uns in Trauer von unserem Mentor, Vorbild, Kollegen, Wegbegleiter, und Freund. 

Eva Flicker, Rudolf Forster, Ulrike Froschauer,  

für das Institut für Soziologie

Jürgen M. Pelikan